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Die Magdalenensekunde

Quelle: biblword.net

Vor einigen Jahren hielt ich bei der Anfertigung einer Seminararbeit an der Universität ein kleines Büchlein von dem deutschen Schriftsteller und Regisseur Patrick Roth in den Händen, mit dem Titel „Magdalena am Grab“. Ein Buch, das bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat.

Ein namenloser Ich-Erzähler berichtet darin, wie er, inspiriert von Pasolinis Bibelfilm Das erste Evangelium – Matthäus, im Zuge seiner Lehre beim Hollywood-Regisseur Daniel Mann eine Szene aus dem Johannesevangelium einstudierte: die berühmte Perikope von Maria Magdalena, Joh 20,1-18, die am Ostermorgen ans Grab ihres Herrn geht und zur ersten Zeugin der Auferstehung wird. Eine unheimliche Dynamik entfaltet sich, je näher der Erzähler, der in besagter Szene den Auferstanden spielt, und seine Schauspielkollegin Monica, die Maria Magdalena verkörpert, dem Kern der Szene rücken. In spannungsvoller Atmosphäre entdeckt Monica dabei, was ihrem Kollegen entgangen ist: Der Bibeltext weist eine Lücke auf – es scheint ein Vers zu fehlen: Maria Magdalena steht Jesus – so lesen wir es in Vers 15 – , den sie zu diesem Zeitpunkt für den Gärtner hält, gegenüber, ihm zugewandt. Doch der Text fordert, dass sie sich zu ihm umwendet. Alles scheint bei der Probe plötzlich „verdreht“ – mit dem Text stimmt etwas nicht. In diesem Moment der Verwirrung läuft Monica – gegen den Text – am Erzähler/Regisseur/Jesus vorbei. Ihr Vorbeilaufen ergänzt eher ungewollt den fehlenden Vers: sie steht nun mit dem Rücken zu Jesus/dem Regisseur. Jetzt ergibt auch das Anrufen Marias im folgenden Vers durch Jesus einen Sinn. Er ruft die Frau bei ihrem Namen – „Maria“ – und diese wendet sich zu ihm um. Jesus und Maria Magdalena stehen nun einander zugewandt und sie spricht: „Rabbuni“ – Auf das Vorbeigehen folgt die Wiedererkennung: Maria erkennt im dem, den sie verloren glaubte, den Auferstandenen. Dieser Moment ereignet sich nicht nur äußerlich, beim Proben der Szene, sondern auch im Inneren, im subjektiven Erleben der Darsteller. Dem Erzähler wird das Vorbeigehen Marias an Jesus zum Sinnbild für das gegenwärtige Verhältnis von Mensch und Gott: „[Sie] sehen einander nicht mehr. Stehen auseinander-gestellt“, heißt es dort. In dieser Situation des Getrenntseins, des Suchens ist das Irregehen die Möglichkeit der Rettung: Erst das Fehlgehen Magdalenas bewirkt die Zuwendung des Auferstandenen und damit die Zuwendung Gottes, provoziert sein Anrufen. Gott wendet sich Maria und damit dem Menschen zuerst zu. Wir haben ihn nicht erkannt, sind an ihm vorbeigelaufen – doch er dreht sich zu uns um und ruft uns bei Namen. In seiner unendlichen Liebe macht der Auferstanden, macht Gott den ersten Schritt.

Die Wiedererkennung selbst versteht der Erzähler als Wandlung, als Taufe und als Auferstehung: „Sie [Magdalena] wird von einer, die ihn [Jesus] nicht mehr kannte, nur lebend den Toten suchte, ihm ‚tot‘ war, verwandelt in eine, die ihn erkennt […]: denn hier erst, in den Augen dieser leibhaftig sehenden Frau, kommt er zur Welt, als Auferstandener jetzt.“

Diese im gesamten Verlauf dieser Ostererzählung vierte Wendung, in der sich die Beziehung zwischen Mensch und Gott in Suche und Fehlgehen Maria Magdalenas wiederherstellt, fasst der Erzähler ins Bild der Magdalenensekunde. Sie bezeichnet eine „völlige Wandlung“, denn auch Jesus wandelt sich vom für den Menschen dunklen, fremden Gott, der sich nicht zu erkennen gibt, zu einem Gott, der sich auf den Menschen bezieht, von ihm gesehen werden will. „Von einer totalen Abgewandtheit, Geschiedenheit, Getrennt-und-Zerrissenheit beider, des Gottes und des Menschen, of matter and of spirit – kommt es zu einer Wendung, ja Zugewandtheit beider: einer ist jetzt im Auge des anderen. Der eine erkannt im Einen enthalten.“

Pastoralpraktikant Michael Gutting