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Komm und sieh!

„Iesus Nazarenus, Rex Iudaeorum“. Am Kreuz wird es so zu lesen sein. „Jesus von Nazaret, König der Juden“. – Ein Spottvers, denn der König der Juden kann doch nicht aus einem galiläischen Dorf kommen. Macht und Einfluss richten sich nach dem Stammbaum, den einer vorzuweisen hat. „Kann denn aus Nazaret etwas Gutes kommen?, fragt auch Natanael den Philippus, als sie über Jesus reden (Joh 1,46).

Nazaret ist zur Zeit Jesu ein Dorf. Zwar liegt es nur viereinhalb Kilometer südlich der Königshauptstadt Sepphoris an der Südgrenze Galiläas und in Sichtweite mehrerer wichtiger Verbindungsstraßen, aber es ist ein Ort von geringer Bedeutung.

Jesus zieht durch die Dörfer und Städte Galiläas. Die Menschen drängen sich um ihn, sie sind fasziniert und hingerissen von ihm, von seinen Worten und seinen Wundertaten. Er war gerade in Kafarnaum, wo er die Tochter des Synagogenvorstehers wieder zum Leben erweckt hat. Nun kommt er nach Nazaret, seinem Heimatort. Die Bewohner wundern sich über Jesus, sowohl über die Weisheit seiner Predigt, die sie in der Synagoge miterleben, als auch über die Wundertaten, von denen sie wie das ganze jüdische Land gehört haben. Sie staunen über ihn, aber sie bleiben auf Distanz.

Die Menschen in Nazaret kennen Jesus. So meinen sie. Sie kennen seine Familie. Sie kennen seine Arbeit als Dorfschreiner und Zimmermann. Sie kennen ihn seit über dreißig Jahren. Zwar lebt er ein wenig außergewöhnlich, denn er hat nicht geheiratet. Aber für seine Verwandten, Freunde und Bekannten im Dorf ist klar: Sie wissen, wer und wie Jesus ist. „Den kennen wir doch.“

Aber der Evangelist Markus ist anderer Meinung. Er will zeigen: Die Leute von Nazaret irren sich. Sie sehen und hören, aber sie erkennen nicht. Ihre vorgefasste Meinung über Jesus steht ihnen so im Weg, dass sie selbst durch die Begegnung mit ihm im eindrucksvollen Synagogengottesdienst nicht zu dem vorstoßen, was hinter Jesus steht. Sie fragen zwar: Woher hat er diese Worte? Woher hat er diese Überzeugungskraft? Wer gibt ihm das Recht zu solchem Reden? Sie fragen, aber sie lassen keine neuen Antworten zu. Sie verschließen sich, sie lassen sich nicht auf Jesus ein. Der ist doch der einfache Mann aus Nazaret. Der ist doch einer von ihnen, den sie kennen. Trotz seines ungewöhnlichen Wirkens ist da so viel Gewöhnliches. Gerade dieses Gewöhnliche ist es, das anstößig auf sie wirkt. Es lässt sie zweifeln, dass ihnen in Jesus wirklich Gott begegnet.

Die Bewohner von Nazaret sind blind für die Geschichte Gottes mit den Menschen. Als hätte es König David nie gegeben, den ehemaligen Hirtenjungen aus Betlehem. Als hätte es die Propheten nicht gegeben, die Gottes Ruf ereilte mitten in einem gewöhnlichen Leben. Einfach so.

Das Besondere des christlichen Glaubens liegt ja gerade darin, dass Gott aus seiner Jenseitigkeit heraustritt. In Jesus Christus tritt er an die Seite der Menschen. Er ist ein Gott, der zu den Menschen kommt und mit ihnen und durch sie die Welt gestalten will. Das erfordert vom Menschen, der ja seine eigenen Vorstellungen und Gewohnheiten über alles liebt, unter Umständen ein Umdenken. Wenn er Gott Raum gibt, mit ihm rechnet und auf ihn hört, dann wird das sein Leben verändern.

„Und Jesus konnte dort kein Wunder tun“, schreibt Markus. Er will deutlich machen: Wer Jesus ist, erschließt sich nur dem, der sich auf ihn einlässt, sich ihm aussetzt. Es zeigt sich dem, der Jesu Wunder nicht nur anschaut, sondern sie an sich selbst geschehen lässt; es zeigt sich dem, der Jesu Worte nicht nur hört, sondern sie in die Tat umsetzt. Das haben die Leute von Nazaret verweigert, dem haben sie sich verschlossen.

Wir verlangen von einem Wunder, dass es sensationell und für den Verstand unerklärlich ist. Vielleicht braucht der persönliche Glaube bisweilen sensationelle Anstöße. Aber tragfähig wird der Glaube bei mir erst, wenn ich das Wirken Gottes im Alltag entdeckt habe, wenn ich keine Sensationen mehr brauche. Die Wunder Jesu sind keine Taten gegen den Unglauben. Sie sind Zeichen der neuen Nähe Gottes, der wir uns in Jesus anvertrauen dürfen. Deshalb verwendet das Neue Testament auch nicht das griechische Wort für „Wunder“, das ja das Unerklärliche meint, sondern es verwendet den Begriff für „Zeichen“. Wer diesen Zeichen folgt und nach Jesus fragt, der erhält vom urchristlichen Zeugnis die Antwort „Er ist der Sohn Gottes.“ Und nicht: „Er ist ein Wundertäter.“ Der Hörer der neutestamentlichen Wundergeschichten wird aufgefordert, sich von den Ereignissen um Jesus weiterweisen zu lassen zur Person Jesu. Denn wir sollen den Glauben an Jesus Christus nicht auf Wunderberichte stützen, sondern vielmehr im Glauben an Jesus Christus Wunder erwarten. Wenn wir die Berührung mit Jesus Christus suchen, dann kann sich bei uns das wirkliche Wunder ereignen, das neue Leben im Vertrauen auf Gott. Darauf weist Jesus immer wieder hin, wenn er sagt: „Du, dein Glaube hat dir geholfen.“

„Kann denn aus Nazaret etwas Gutes kommen?“ – Die Antwort des Philippus an Natanael gilt auch uns: „Komm und sieh!“

Pastoralreferentin Regina Mettlach