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Mehr als nur Fassade

Neulich ist mir eines jener abertausenden Spruchbücher in die Hände gefallen, die viele Leute zu allen erdenklichen Gelegenheiten verschenken. Ich blättere eine Seite auf und lese:

Wer glaubt, ein Christ zu sein, weil er die Kirche besucht, irrt sich.

Man wird ja auch kein Auto, wenn man in eine Garage geht. (A. Schweitzer)

Eine amüsante Vorstellung prägt Albert Schweitzer mit seinem Ausspruch. Er regt in mir das Bild eines ehrwürdigen Erdenbürgers an, der sich beim Betreten der Garage in einen VW Käfer verwandelt. Ich schmunzle, doch nun kreisen meine Gedanken weiter. Sind nicht oft jene, die sich hinter einem Titel verstecken, die auf einem Treppchen stehen, die ein Amt bekleiden, die, die plötzlich zum besseren Menschen werden – oder das zumindest für sich in Anspruch nehmen? Fühle ich selbst mich nicht auch unwillkürlich wichtiger, wenn ich nicht in zivil, sondern in liturgischer Kleidung durch die Kirche laufe? „Jaja, fass dir ruhig an die eigene Nase“, denke ich, als ich ein wenig beschämt das Buch zuklappe und meine Taschenbibel zur Hand nehme. Nach einigem Geblättere habe ich mit der Bergpredigt gefunden, was ich suche:

Wenn ihr betet, macht es nicht wie die Heuchler. Sie stellen sich beim Gebet gern in die Synagogen und an die Straßenecken, damit sie von den Leuten gesehen werden. (Mt 6,5)

Jesus spricht über dasselbe Phänomen. Er prangert jene an, die sich der Offensichtlichkeit hingeben, um gut dazustehen. Sie machen es sich bequem. Sie richten sich ein in ihrem Gotteshaus, um jedem ihre vorzügliche Gottesbeziehung zu zeigen. Sie prahlen laut auf den Straßen, wenn sie Almosen geben. Mehr brauchen sie nicht, die Fassade genügt. Und was ist mit Gott? Gott wird ebenso zur Fassade wie alles andere, doch die Herzen sind leer. Jesus fordert uns auf, im Stillen zu beten und zu handeln. Abseits des Trubels und der Beachtung. Für uns – mit Gott.

Damals war es vielleicht schick, an den einen Gott zu glauben. Heute ist es das nicht mehr. Es ist unbequemer geworden. Die Fassade trägt mich nicht mehr – selbst wenn ich wollte. Ich muss mir etwas Neues überlegen, muss mich plötzlich mehr mit dem auseinandersetzen, was ich glaube. Weil ich angefragt werde, wenn ich in die Kirche gehe. Man will mehr wissen. „Was steckt dahinter? Was denkst du? Wie betest du?“ Und vor allem: „Was tust du jenseits der Kirchenmauern mit deinem Glauben? Dort, wo du dich nicht in deinem eingeschworenen Kreis profilieren kannst? Hilfst du auch dort, wo es keiner sieht?“

Das kann mich konfrontieren. Ich kann mich in die Enge getrieben fühlen. Ich kann diese Nachfragen aber auch als Chance erkennen. So werde ich immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, über meinen Glauben nachzudenken, um ihn dann nach außen zu tragen und danach zu handeln – immer tief im Wissen darum, dass ich keine reine Fassade bin. Ich darf mich nicht verstecken und ich muss es auch nicht. Ich trage eine Fackel in mir. Sie strahlt durch die Fenster der Kirchenmauern hinaus in die Welt, sie macht meinen Glauben erfahrbar. In allem, was ich tue, kann sich der Auftrag Jesu entfalten, wenn ich nur will.

Zufrieden schlage ich die Bibel zu, lege sie auf mein Regal und drehe mich auf dem Absatz um. Draußen vor dem Fenster sitzt wieder die alte, einsame Frau auf der Parkbank… Keiner beachtet sie. Normalerweise eile auch ich vorbei – heute habe ich Zeit, viel Zeit.

Sonja Dussel, Pastoralpraktikantin